Beutelsbacher Konsens
Der Beutelsbacher Konsens ist eine didaktische Richtschnur für politische Bildungsarbeit, welche 1976, während einer Tagung von Politikdidaktikern, erzielt wurde.
Inhalt
Der Beutelsbacher Konsens gehört zur Didaktik der politischen Bildung, mit dem Hauptziel die Demokratie zu stärken, indem Bürger_innen in der Lage sind, selbstständig demokratische Entscheidungsprozesse zu vollziehen. Um dies zu ermöglichen, wird sich am Beutelsbacher Konsens orientiert, der keine methodische Anleitung, aber eine Leitfaden für zentrale Qualitätskriterien für politischen Unterricht in einer pluralistischen Demokratie darstellt. Er dient als formlose Übereinkunft für politische Bildung in öffentlichen Schulen, aber auch allgemein im öffentlichen Auftrag, indem er eine Orientierungsfunktion einnimmt, die effektive und nachhaltige politische Bildung gewährleistet[1].
Der Beutelsbacher Konsens besteht aus drei Prinzipien, welche das Kernziel politischer Bildung verfolgen: die Fähigkeit politischer Urteilsbildung. Dafür bedarf es neben Faktenkenntnissen, auch Wissen über Grundstrukturen politischer Systeme und den damit verbundenen Entscheidungsverfahren, erst dann können verschiedene Positionen nachvollzogen und der eigene Standpunkt kritisch reflektiert werden[2]. Prägnant ist der Unterschied zwischen dem im Unterricht geforderten politischen Urteil und der politischen Meinungsäußerung im Alltag. Letzteres kann bspw. nur auf schlichten Überzeugungen beruhen, wohingegen ersteres Sach- und Wissensaspekte für eine Argumentation verlangt, da nur so wissensbasierte Abwägungen kontroverser Positionen möglich sind[3].
Die drei Prinzipien des Beutelsbacher Konsens[4]
Überwältigungsverbot
Es ist nicht erlaubt, die Schüler_innen im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der "Gewinnung eines selbständigen Urteils" zu hindern.
Das Überwältigungsverbot ist die Grenze zwischen politischer Bildung und Indoktrination. Es orientiert sich an Kants Leitgedanken, den eigenen Verstand und die eigene Urteilskraft zu verwenden und
demnach in freiheitlicher Selbstbestimmung zu handeln. Menschen dürfen dabei nicht manipuliert oder benutzt werden[5].
Kontroversität
Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
Die Kontroversität ist der Weg eine Überwältigung zu vermeiden[6]. Dieses Prinzip beinhaltet Multiperspektivität und sichert den Umgang mit der Heterogenität. Nur durch die Darstellung aller
Alternativen kann der konstitutive Pluralismus einer Demokratie anerkannt werden[7]. Politische Bildung heißt, Konflikte sichtbar machen, die aus den verschiedenen Interessensgegensätzen und Herrschaftsverhältnissen der Gesellschaft resultieren. Durch dieses Aufzeigen wird kritisches Denken gefördert[8].
Interessenorientierung
Die Schüler_innen müssen in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und ihre eigenen Interessenlagen zu analysieren.
Die Interessen- oder auch Schülerorientierung betont v.a. die Vermittlung einer operationellen Fähigkeit, d.h. eines methodischen Instrumentariums[9] um gegebene politische Situationen verstehen zu können. Diese sollten im eigenen Interesse beeinflusst werden können, um intrinsische Motivation für ein politisches Thema zu schaffen[10].
Entwicklung
In den 1970er Jahren war die Ausgangssituation eine herrschende Uneinigkeit darüber, was politische Bildung eigentlich leisten solle, wodurch zwei verstrittende Lager der Politikdidaktiker entstanden. Aufgrund dessen luden Siegried Schiele, Vater des Beutelsbacher Konsens[11] und die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zu einer Tagung im schwäbischen Beutelsbach (1976) ein, das Ziel verfolgend, durch ein Expertengespräch, die Klarstellung der jeweiligen Positionen aufzuzeigen und einen gemeinsamen Konsens zu finden[12]. Die Vertreter politscher Bildung strebten zu diesem Zeitpunkt die Professionalisierung durch eine eigene Theorie und Didaktik an[13]. Der Beutelsbacher Konsens wurde auf dieser Fachtagung nie formell beschlossen, sondern eigentlich nur durch den Protokollanten Hans-Georg Wehling niedergeschrieben. Durch die widerspruchslose Unterzeichnung aller Beteiligten galt er jedoch ab diesem Zeitpunkt als Fundament politischer Bildung.
Die Kunst des Konsens liegt in der Kürze und der Beschränkung auf das Wesentliche, wodurch die zerstrittenen Lager geeinigt wurden. Anschließende Versuche der Modifizierung bzw. Ergänzung des Konsens schlugen meistens fehl und so verbreitete er sich in seiner Ursprungsform ziemlich schnell, da er v.a. als gemeinsamer Ankerplatz anerkannt wurde: "Dieser Konsens gab Orientierung und ebnete den Weg zum Vertrauen in eine politische Bildung, die man so bislang nicht gekannt hatte." Bis heute wurde der Beutelsbacher Konsens in mehr als acht Sprachen übersetzt (u.a. Koreanisch)[14].
Grenzen
Die meisten Grenzen zeigen sich aus aktueller Sicht beim Prinzip der Kontroversität. Dies resultiert aus der Komplexität politischer Sachverhalte, die eine didaktische Reduktion der Inhalte notwendig macht. Es ist somit in der Praxis nicht möglich, alle Standpunkte eines politischen Themas aufzuzeigen, sodass die Frage entsteht, was denn eigentlich auch weggelassen werden darf / kann. Viele Theoretiker vertreten hierbei die Ansicht, dass sich die zu behandelnden Positionierungen immer an der Öffentlichkeit orientieren sollten. Doch auch das wird kritisch betrachtet, da gerade auch von der Gesellschaft verdrängte bzw. vom politikwissenschaftlichen Diskurs ausgeblendete Themen, zur Urteilsfähigkeit beitragen können[15].
Des Weiteren gilt eine stetige Orientierung an grundlegenden demokratischen Werten, welches die Legitimation bspw. extremistischer Positionierungen in Frage stellt. Dabei ist zu beachten, dass nicht die Kritik am Grundgesetz unzulässig ist, jedoch immer die Einhaltung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gewährleistet sein muss[16].
Aktualität
Der Beutelsbacher Konsens ist "im Kern bis heute unumstritten, mehr noch: [er gilt] als ein zentrales Element des professionellen Selbstverständnisses einer demokratischen politischen Bildung." (Sandner, 2001, S. 42 nach Ahlheim, 2009, S. 248)
Trotzdessen der Beutelsbacher Konsens heutzutage als Allgemeingut betrachtet wird, stellt sich immer mehr die Frage, ob er noch hinreichend bzgl. der steigenden Demokratie-Unzufriedenheit und der daraus resultierenden Phänomene, wie z.B. Rechtsextremismus, ist. Dabei ist in der politischen Bildung zu beachten, dass rechtsextreme Positionen nicht Inhalt, sondern Gegenstand von Bildungsprozessen sein sollten, sodass sie im Sinne der Kontroversität zugelassen und bearbeitet werden können. Trotzdem sollten die Grundwerte der Demokratie das didaktische sowie pädagogische Handeln begleiten[17].
Heutzutage dürfen menschenverachtende Meinungen nicht gleichberechtig nebeneinander stehen oder als legitim dargestellt werden, da politische Bilder sich immer auf Positionen für die Menschenwürde beziehen müssen. Jedoch sollte im Politikunterricht darauf geachtet werden, dass niemand persönlich verurteilt wird. Trotzdem muss eine Auseinandersetzung mit demokratiefeindlichen Meinungen
stattfinden[18], d.h. „menschenverachtende Positionierungen klar als solche zu benennen und zurückzuweisen. Das ist dann keine Überwältigung, sondern Einsatz für die Demokratie.“ (Drücker 2016, S. 130)
Vierter Konsenssatz: Politische Bildung versteht sich als Teil einer demokratischen politischen Kultur. Sie will mit pädagogischen Mitteln an der Erhaltung und Weiterentwicklung der Demokratie mitwirken, denn nur demokratisch verfasste Gesellschaften können pädagogisch intendierte Mündigkeit der Schülerinnen und Schüler akzeptieren. (Sandner, 1995, S. 217)
Der Beutelsbacher Konsens weist bei politischen Themen auf schwierigen Terrain
Grenzen auf, mit denen sich von vielen Theoretiker_innen bereits beschäftigt wird. Es wird dabei v.a. eine mangelnde Positionierung des Beutelsbacher Konsens kritisiert, wodurch Wolfgang Sandner schon 1995 einen vierten Konsenssatz entwickelte, der jedoch bis heute keine offizielle Formulierung erlangt hat[19], sodass die politische Bildung weiterhin vor die Herausforderung gestellt ist, inwieweit der ursprüngliche Beutelsbacher Konsens hinsichtlich seiner Umsetzbarkeit und Wirksamkeit nachhaltig und effektiv angewendet werden kann.
Quellenverzeichnis
Ahlheim, K. (2009). Die Kirche im Dorf lassen. Ein nüchterner Blick auf den Beutelsbacher Konsens in Erwägen Wissen Ethik - Streitforum für Erwägungskultur. (Heft 2).
Eis et al. (2015). Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung. https://www.uni-oldenburg.de (zuletzt geöffnet: 16.06.17)
Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (2017). Beutelsbacher Konsens. https://www.lpb-bw.de/beutelsbacher-konsens.html (zuletzt geöffnet: 16.06.17)
Oberle, M. & Weißeno, G. (Hrsg.) (2017). Politikwissenschaft und Politikdidaktik. Theorie und Empirie. Wiesbaden: Springer VS.
Pohl, K. (2015). Kontroversität: Wie weit geht das Kontroversitätsgebot für die politische Bildung?. Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/politische-bildung/193225/ http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/politische-bildung/193225/kontroversitaet?p=all(zuletzt geöffnet: 16.06.17)
Schmidt, J. & Schoon, S. (Hrsg.) (2016). Politische Bildung auf schwierigen Terrain. Rechtsextremismus, Gedenkstättenarbeit, DDR-Aufarbeitung und der Beutelsbacher Konsens. Mecklenburg-Vorpommern: Landeszentrale für politische Bildung.
http://www.didactics.eu /fileadmin/pdf/beutelsbacherkonsens.pdf (zuletzt geöffnet: 16.06.17)
Einzelnachweisliste
- ↑ Schmidt & Schoon, 2016, S. 11, 22, 29
- ↑ Schmidt & Schoon, 2016, S. 29
- ↑ Oberle & Weißeno, 2017, S. 76
- ↑ lpb-bw, 2017
- ↑ Schmidt & Schoon, 2016, S. 14
- ↑ lpb-bw, 2017
- ↑ Oberle & Weißeno, 2017, S. 32 ff.
- ↑ Eis et al., 2015
- ↑ lpb-bw, 2017
- ↑ Schmidt & Schoon, 2016, S. 19
- ↑ Ahlheim, 2009, S. 250
- ↑ Schmidt & Schoon, 2016, S. 4, 72
- ↑ Oberle & Weißeno, 2017, S. 34
- ↑ Schmidt & Schoon, 2016, S. 4-10, 22
- ↑ Ahlheim, 2009, S. 249
- ↑ bpb (Pohl), 2015
- ↑ Schmidt & Schoon, 2016, S. 21, 35f.
- ↑ bpb (Pohl), 2015
- ↑ didactics.eu