Wir
Dieser Artikel stammt (evtl. teilweise) von Rudolph Bauer. Ähnliche Artikel enthält auch sein Buch "Kritisches Wörterbuch des Bunten Totalitarismus".
In der Politik ist das „Wir“ fester Bestandteil des demagogischen Wordings und wirkt wie ein „Zauberwort“ (Biermann/Haase 2013: 201): „Wir zusammen“, „Wir gemeinsam“, „Wir gegen rechts“, „Wir sind bereit“ („… um Verantwortung in der Welt zu übernehmen“), „Wir haben die Kraft“, „Wir stehen an der Seite von Israel“, „Wir in Europa“, und so weiter. Dabei ist nichts so falsch, wie das falsche Wir.
Die Wir-Formel unterstellt eine gedankliche, weltanschauliche und praktische Einheit. Sie buhlt innerstaatlich um ein Gemeinschaftsgefühl und vernebeln den Blick auf die Besitz- und Machtverhältnisse, welche die unterschiedlichen Interessen der konkurrierenden Gruppierungen in der Klassengesellschaft prägen. „Wir“ lautet auch der Buchtitel einer bei Suhrkamp erschienenen Veröffentlichung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (vgl. 2024). „Das schwierigste Wort der deutschen Sprache besteht aus drei Buchstaben. (…) Sofern nicht das Wir der Menschheitsfamilie gemeint ist, trägt jedes Wir die Bürde einer heiklen Begründung. Es muss ausgrenzen, um trennscharf zu werden. Oder es ist das zum Pluralis Majestatis aufgeblasene Ich eines Regenten.“ (Alexander Kissler; in: NZZ vom 20. April 2024: 8) „Steinmeier will nicht der Präsident aller Deutschen sein. Er spricht nur zur ‚Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger‘ und nur für die ‚demokratische Mitte‘.“ (Ebd.) „Welch diktatorische und erdrückende Macht ein solches ‚Wir‘-Gefühl entfalten kann. zeigt sich beispielsweise in der gern eingenommenen Haltung: ‚Wer nicht für uns ist, ist gegen uns‘.“ (Biermann/Haase 2013: 201) – Auch das Regime der Nationalsozialisten räumte der (arischen Volks-)Gemeinschaft den obersten Rang ein und war misstrauisch gegenüber dem Individuum; es kannte nur Freunde oder Feinde, wobei letztere keine Auseinandersetzung verdienten, sondern aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen und vernichtet zu wurden.
Weblinks
- 29.12.2008, Martin Haase: Neusprech im Überwachungsstaat - Politikersprache zwischen Orwell und Online, ab Minute 20